Aus der „Zuger Zeitung“ vom Samstag, 9. Dezember 2017
Wer war dieser «Johann Strauss Frankreichs»? Vor 180 Jahren, am 9. Dezember 1837, wurde er im Elsass geboren. Ein Pariser oder Londoner Ball wäre im ausgehenden 19. Jahrhundert ohne die elektrisierenden Walzer Émile Waldteufels unvollkommen gewesen.
Die ganze Welt schunkelt mit, wenn Cindy und Bert ihren Megahit «Wenn die Rosen erblühen in Malaga» von 1975 aus den Lautsprechern trällern. Oder schwelgend summt man mit bei den «Schlittschuhläufern», einem der populärsten Konzertwalzer der Musikgeschichte. Welchem kreativen Geiste diese unverkennbaren Melodien entsprungen sind, vermag so gut wie keiner zu benennen. Dabei war der Urheber mit dem einprägsamen Namen Émile Waldteufel für das Paris und das London des ausgehenden 19. Jahrhunderts das, was Johann Strauss für das Wien derselben Zeit war. Wo Waldteufel mit seinem gefeierten Orchester aufspielte, da versammelte sich die Société féodale.
Charles Émile Lévy Waldteufel wurde am 9. Dezember 1837, exakt heute vor 180 Jahren, in Strassburg in eine angesehene Musikerfamilie hineingeboren. Sein Vater Louis führte ein beliebtes Tanzorchester, und sein fünf Jahre älterer Bruder Léon war ein begnadeter Violinist. Als dieser ans Pariser Konservatorium aufgenommen wurde, zog die gesamte Familie Waldteufel kurzentschlossen in die Hauptstadt. Der Ortswechsel legte den Grundstein für Émiles fulminante Karriere: Er selbst trat 1853 als Pianist ins Pariser Konservatorium ein, während das Orchester seines Vaters immer angesehener wurde – hauptsächlich bei der feinen Gesellschaft. Im Jahr 1865 wurde Émile Waldteufel von Eugénie, Frankreichs letzter Kaiserin, höchstpersönlich zum französischen Hofpianisten ernannt, nachdem sein Vorgänger Joseph Ascher nach London umgesiedelt war.
Internationaler Durchbruch
Bald dirigierte Émile – mittlerweile auch als Komponist aktiv – das Orchester seines Vaters, meist weiterhin in fürnehmster Umgebung wie dem Tuilerienpalast. Der internationale Durchbruch gelang Émile Waldteufel, als sich an einem Konzert im Oktober 1874 der künftige britische König Edward VII. unter dem Publikum befand. Angetan von Waldteufels Werk, verschaffte ihm der Monarch einen vielversprechenden Vertrag mit einem Londoner Verlag. Selbst an den Bällen von Queen Victoria gehörte Waldteufels beschwingte Musik bald zum guten Ton. Wohl war der Komponist zu Lebzeiten primär der besseren Gesellschaft bekannt, sein Netzwerk zog sich durch sämtliche Adelsränge. Die klangvollen Widmungsträger seiner über 250 Walzer, Polkas und Märsche zeugen eindrücklich davon.
Im Jahre 1882 gelang Émile Waldteufel sein bedeutendster Wurf: Mit dem Walzer «Les Pâtineurs» op.183, bei uns besser bekannt als «Die Schlittschuhläufer», hat der gebürtige Elsässer Musikgeschichte geschrieben. Kein Karussell, keine Drehorgel, keine der zahllosen Kompilationen der «schönsten Walzer der Welt» kommt ohne die eingängig dahinfliessende Melodie in A-Dur aus, in einer Vielzahl an Hollywoodfilmen oder Cartoons dient sie als Tonmalerei. Am Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker vom 1. Januar 2017 waren «Die Schlittschuhläufer» Teil des Programms. In der fast 80-jährigen Geschichte des traditionsreichen Konzerts im Wiener Musikverein fand Émile Waldteufel zum zweiten Mal in Folge einen Platz an der Seite der Strauss-Brüder. Ein posthumer Ritterschlag.
Émile Waldteufel aber ist freilich weit mehr als nur «Die Schlittschuhläufer»: Weitere bis heute regelmässig gespielte Walzer sind etwa «Estudiantina» (1883) oder «España» (1886). Letzterer basiert auf Melodien der gleichnamigen Rhapsodie von Emmanuel Chabrier (1841–1894) und stand schliesslich auch Pate für den eingangs erwähnten Welthit von Cindy und Bert. Auch geniale Schöpfungen wie «Pomone», «Amour et printemps», «La Source» oder «Pluie de diamants» tauchen bis heute noch im einen oder anderen U-Musik-Konzertprogramm auf.
Der Name des Urhebers ist weitgehend in Vergessenheit geraten, erlebt aber seit einigen Jahren eine kleine Renaissance, wenn auch eine zaghafte. Ab 1998 publizierte Naxos Records unter dem Label Marco Polo ein «Best of Émile Waldteufel» auf 11 CDs. Die Staatliche Slowakische Philharmonie Košice spielte über 100 Werke ein, viele von ihnen waren nun erstmals wieder zu hören. Eine Besonderheit Waldteufels war, dass er sämtliche Kompositionen als Klavierpartitur erstellte. Erst im Nachgang liess er sie orchestrieren.
«Feminine» Kompositionsweise
Waldteufels Walzer, Polkas und Galoppe zeichnen sich aus durch eine auffällige Zartheit und einen aussergewöhnlichen Melodienreichtum, den er bis in die feinste Nuance ausreizt. Obschon einige Werke, vor allem die spanisch geprägten, geradezu elektrisierend auf das tanzwillige Publikum wirken, so lassen sie dennoch die typische «Handschrift» Waldteufels nie missen. Viele Motive tauchen in unterschiedlichen Kompositionen subtil in variierender Weise wiederholt auf. Im Gegensatz zu Johann Strauss, dessen Walzer punktuell kräftig und archaisch ausbrechen, komponierte Waldteufel viel «femininer», wie es ein Kritiker einmal treffend notierte. Selbst seinen Märschen hat Waldteufel nie die Zackigkeit der deutschen und österreichischen Pendants einverleibt.
Dieser omnipräsente Liebreiz in Waldteufels Musik kann nicht zuletzt auch auf sein Gemüt zurückgeführt werden: Es ist überliefert, dass er eine sanfte, gesellige sowie überaus gutmütige und humorvolle Natur, ein liebender Ehemann und Familienmensch war. Am 12. Februar 1915 verstarb der schaffenskräftige «Johann Strauss Frankreichs» in Paris. Sein unauffälliges Grab mit verblichener Inschrift liegt auf dem Friedhof Père Lachaise.
Andreas Faessler